haunting infrastructures
versuchsanordnungen zu ns-kontinuitäten
1.-19.12.2021
„Ich möchte fast glauben (...), wir alle sind Gespenster. Nicht bloß das geht in uns um, was wir von Vater und Mutter geerbt haben. Es sind allerhand alte, abgestorbne Ansichten und allerlei alter, abgestorbner Glaube und dergleichen. Es lebt nicht in uns, aber dennoch sitzt es fest in uns, und wir können‘s nicht loswerden.“ (Henrik Ibsen)
„The past is not dead, it’s not even past.” (William Faulkner)
„Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, dass es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie Umklammern.“ (Theodor W. Adorno)
„Jacques Derrida hat von Bildern behauptet, das Gespenstische sei ihnen immanent. (...) Gleiches lässt sich vom Wissen in der künstlerischen Forschung sagen. In ihr hat das Wissen, das sie in sich aufnimmt und zur Kunst macht, eine widergängerische Form: Als gesichertes wird es zum Verschwinden gebracht und kehrt als ungewisses, spekulatives oder phantasmatisches zurück.“ (Kathrin Busch)
Ein Projekt der dis_continuities Forschungsgruppe der documenta studien an der Kunsthochschule Kassel.
d is for dis_continuity? Forschungen zu NS-Kontinuitäten bei der documenta
Seit Anfang des Jahres arbeitet an der Kunsthochschule Kassel im Rahmen der documenta studien eine Gruppe künstlerisch und wissenschaftlich Forschender unter der Leitung von Nanne Buurman und Alexis Joachimides zur Frage nach NS-Kontinuitäten bei der documenta. In kritischer Auseinandersetzung mit dem politisch ambivalenten im/materiellen Erbe der Moderne, das die Ausstellungsreihe aufgrund ihrer spezifischen geopolitischen Position im sogenannten Kalten Krieg in besonderem Maße prägte, untersucht die dis_continuities-Gruppe das un/heimliche Fortwirken von völkischen, antisemitischen, rassistischen und patriarchalen Mustern in Kunst und Kultur, Ausstellungs- und Ausbildungsinstitutionen bis heute. Dabei ist es ein zentrales Anliegen, auch die Situierung der unterschiedlichen Forschungsansätze selbst in vergangene und gegenwärtige Machtverhältnisse und epistemologische Regime zu berücksichtigen.
haunting infrastructures: Das Museum Fridericianum heimsuchen
Vom 1.-19. Dezember 2021 bezieht die dis_continuities-Forschungsgruppe gemeinsam mit Studierenden der Kunsthochschule Kassel die Räume des Kasseler Kunstvereins im Museum Fridericianum, um mit Formen der Adressierung und Vermittlung der „Erbschaft dieser Zeit“ zu experimentieren. Inwiefern prägten völkisch-nationalistische Narrative, Netzwerke und Strukturen aus der Zeit vor 1945 bzw. vor 1933 den Kunstbetrieb Nachkriegsdeutschlands und durchspuken auch heute noch kulturelle und gesellschaftliche Infrastrukturen? Welche personellen, politischen, ökonomischen, diskursiven und ästhetischen Kontinuitäten gibt es über den prominenten Fall Werner Haftmann hinaus? Was für eine Rolle spielt das Narrativ des Bruchs mit dem Nationalsozialismus - für den Mythos documenta, aber auch für das post-nationalsozialistische Selbstverständnis der BRD und des wiedervereinigten Deutschlands?
wir alle sind gespenster: Ausstellen als Methode
In der kuratorischen Versuchsanordnung wir alle sind gespenster/ haunting infrastructures geht es weniger um die Präsentation von Forschungsergebnissen, Faktenwissen oder einzelnen künstlerischen Werken, sondern darum, das Ausstellen als Methode der Generierung von Erkenntnissen und Erfahrungen produktiv zu machen. Unser Anliegen ist also kein Rückblick, der es er-aubt einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu setzen. Statt sich durch historische Distanz aus der Affäre zu ziehen, werden Formen des Umgangs mit der Gegenwärtigkeit von Geschichte erprobt - jenseits von Verdrängung, Schuldabwehr und Selbstreinwaschung. Die Untoten des Nationalismus und Kolonialismus, die nach wie vor hinter den weißen Wänden von Ausstellungsinstitutionen und zwischen den Zeilen kunstwissenschaftlicher Narrative ihr Unwesen treiben, wollen wir nicht ausstellen. Wir wollen uns ihnen stellen, denn diese Geister sind eng mit den gesellschaftlichen Verhältnissen verwoben und sitzen mithin in unseren Körpern und Köpfen fest.
expose & exorcize: Vor der eigenen Haustür kehren
Als Bewohner:innen der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Infrastrukturen, die wir von unserer Eltern und Großeltern geerbt haben, wollen wir vor der eigenen Haustür kehren. Anstelle von Selbstvergewisserung und Bereinigung des Gewissens, geht es um die Verunsicherung gegebener Gewissheiten, Verunreinigungen von weißen Räumen, und das Aufbrechen von herrschenden Wissensordnungen jenseits der einfachen Dichotomie von gut und böse. Mit unseren Forschungen wollen wir sowohl neues Wissen schaffen als auch alte Gewohnheiten ablegen, Körperpanzer knacken und eigene „Verstrickungen“ verstehen lernen.
tatort kassel: Gegenwartsbewältigungen
Im Sinne einer „Gegenwartsbewältigung“ soll ein Bewusstsein dafür kultiviert werden, wie sehr die deutsche Mehrheitsgesellschaft, zu der viele von uns gehören, von dem kulturellen, symbolischen und finanziellen Kapital profitiert, das durch antisemitische, rassistische, koloniale und patriarchale Enteignung, Zwangsarbeit und Vernichtung angehäuft wurde. Unabhängig vom individuellen Nazihintergrund sind wir alle durch Sozialisation von der unvollständigen Denazifizierung edukativer und kultureller Institutionen betroffen. In kritischer Auseinandersetzung mit unseren eigenen Kompliz:innenschaften wollen wir auf die strukturellen Bedingungen rechter Gewalt hinweisen. Nicht zuletzt am Tatort Kassel hat sich mit der Ermordung Halit Yozgats und Walter Lübckes gezeigt, dass Verantwortung nicht auf einzelne Täter:innen reduziert werden kann.
Mit Beiträgen von Nanne Buurman, Laura Pia Christoph, Kira Goldbourne, Max Graf, Shirin Graf, Jonas Grubelnik, Natascha Sadr Haghighian, Carolin Angulo Hammes, Stefan Hurtig, Neo Hülcker, Malin Kuhnt, Denis Lebedev, Julia Majewski, Henrike Naumann, Qianmei Ni, Judith Raum, Julius Redzinski, Herr v. Rehtanz, Martha Rosler, Andara Shastika, David von der Stein, Raffael Tobias Streicher, Tina Turnheim, Fritz Laszlo Weber, Max Wolter, Jia You und weiteren Gästen.
Bis 19. Dezember verändern sich die Anordnungen des experimentellen Settings immer wieder.
Konzipiert und kuratiert von Nanne Buurman mit den Mitgliedern der dis_continuities Forschungsgruppe und Studierenden der Kunsthochschule Kassel.
www.dis-continuities.de
dis_continuities[at]documenta-studien.de
Öffnungszeiten
Dienstag – Sonntag & feiertags 11 – 18 Uhr, Donnerstag 11 – 20 Uhr
Gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst im Rahmen von Kunst Forschung Praxis documenta – künstlerische und kuratorische Forschung am documenta Institut.