Artifizielle Ökologien
Yoav Admoni
Chris Bierl
fermentier.bar
Saša Spačal
Tree of Heaven Woodshop (Ingo Vetter & Annette Weisser)
02.07. - 09.10.2022
Mit der Ausstellung „Artifizielle Ökologien“ lud der Kasseler Kunstverein dazu ein, die Beziehungen von Natur und Kultur, von Artifizialität, Technologie und Natürlichkeit, von Gestaltetem und Ungestaltetem, von Organischem und Anorganischem zu reflektieren. Artifizielle Ökologien stellt die Frage, wie wir uns im Beziehungsgeflecht von Natürlichkeit und Künstlichkeit verorten, wie wir diesen Zusammenhang erleben und verstehen. Artifizielle Ökologien schafft eine Ökologie zweiter Ordnung: Eine „Ökologie der Ideen“ (Gregory Bateson) zu gestalteten Lebensgemeinschaften, eine Ökologie künstlerischer Positionen, die wir im diskursiven Austausch miteinander für die Entwicklung neuer Perspektiven auf unsere Habitate nutzen können.
Die Ausstellung berührt ein tiefes Spannungsverhältnis von Natürlichkeit und Künstlichkeit, das zur Conditio Humana, den Grundbedingungen des Menschseins, gehört: Als lebendige Organismen mit einem Körper sind und bleiben wir natürliche Natur, als (selbst-)reflexive und weltoffene Wesen können und müssen wir Lebensräume gestaltend erschaffen, um in ihnen (über-)leben zu können. Unsere Habitate, unsere ökologischen Nischen, sind entsprechend künstlich und natürlich zugleich.
Dieser Doppelcharakter ist auch dem Begriff „Ökologie“ immanent. Als Lehre von den Wechselbeziehungen zwischen Organismen und ihren Umgebungen ist Ökologie ein theoretisches Artefakt zu den Lebensgemeinschaften, die sie beschreibt. Ökologie ist immer artifiziell. Der Ausstellungstitel geht hiervon aus und betont zudem die Besonderheit des künstlerischen Zugriffs auf diesen Zusammenhang: Artifizielle Ökologien.
Dazu passt, dass der Wortursprung von „Ökologie“ auf einem anthropozentrischen Blick aufruht: Der „Haushalt“ (gr. Oikos) und das Haushalten bilden sowohl für die Ökologie als auch die Ökonomie die etymologische Wurzel. Dabei wird in der Gegenwartsgesellschaft deutlicher denn je, dass unser Haushalten den planetarischen Oikos – dessen Teil wir sind – in eine existentielle Krise führt. Der Klimawandel und das Artensterben sind hierfür die deutlichsten Symptome. Im Blick auf die (selbst-)zerstörerische Zurichtung der Biosphäre mag man sich einen künstlerischen Katastrophenalarm wünschen. Allerdings beliefern uns auch die Massenmedien täglich mit drastischen Bildern von brennenden Wäldern, vermüllten Ozeanen und ruinösen Atomkraftwerken.
So spricht vieles dafür, in der Kunst ein leitendes Modell für einen offenen und poetischen Blick auf das Spannungsverhältnis von Künstlichkeit und Natürlichkeit zu sehen. Kunst experimentiert und phantasiert und schafft mit ihren ästhetischen Herangehensweisen neue Emotionen und Imaginationen in und zu den Wechselbeziehungen von Artefakten und Organismen. Die versammelten Künstler:innen nehmen diese Spur in unterschiedliche Richtungen auf:
Die Arbeiten von Yoav Admoni thematisieren die erhaben-elementare Materialität des Natürlichen ebenso wie dessen Domestizierung und Einhegung. Die ernsten Spiele der Romantik werden ins Polyesterzelt des zeitgenössischen Nomadentums verlagert oder werfen einen Blick zurück in die Geschichte des Gewächshauses mit seinen kolonialistischen Bezügen – ein Prototyp artifizieller Ökologie.
Chris Bierl lässt die Ausstellungsbesucher:*nnen zu integralen Akteur*innen eines Habitats werden, in dem Dinge, Bilder, Tiere und Menschen interagieren. Der abgeschlossene Glas-Raum stellt eine intime Nähe zwischen den Besucher*innen und den lebenden Mantiden her. „Lebendige Bilder“ rücken das Mikro-Geschehen und die Dynamik des Insekten-Kosmos an die Betrachtenden heran, während der Glas-Kubus von außen zugleich als ein (Zoo-)Gehege
erscheint: In welchem Verhältnis stehen Tier, Mensch und Ding, und inwiefern ist die puristische Raumgestaltung für die beteiligten Wesen ein Lebensraum?
Die fermentier.bar (Christian Freudenberger, Jule Helene Leinpinsel, Nadja Nolte, Carola Schafhausen) fokussiert Bakterien und damit jene Spezies, die sich unserer Wahrnehmung entziehen, die für die Ökosysteme des Planeten wie die unserer Körper jedoch von existentieller Bedeutung sind. Kochen und Essen werden als kollektive Handlungen zelebriert, als eine vergemeinschaftende Kulinarik, die aus der Arbeit mit Mikroorganismen und deren Einverleibung hervorgeht.
Die Arbeit „Mycomythologies“ von Saša Spačal verschränkt das Gestaltete und das Natürliche in einer artifiziellen Ökologie, die beide Sphären geradezu verschmilzt. Die Technologie eröffnet einen mikroskopischen Blick auf eine lebendig-wachsende Pilzlandschaft, die mit dem Mikrobiom der Künstlerin gemischt ist (Blood, Sweat and Tears) und in den Wechselbeziehungen ihre Form gewinnt. Die algorithmisch gesteuerte Kartographie dieser Landschaft generiert eine rhizomatische Ästhetik, in der Natürlichkeit und Artifizialität ununterscheidbar verwoben sind.
Der Tree of Heaven Woodshop (Ingo Vetter & Annette Weisser) rückt die Technik des Re- bzw. Upcyclings in den Zusammenhang globalisierter Ökosysteme und die dazugehörigen Probleme ein: Der asiatische Götterbaum, durch den Welthandel in vielen Regionen jenseits seiner Herkunftsregion zur invasiven Art geworden, wird gezielt als Rohstoff für den Bau von Stühlen genutzt. Die Serie "Kassel Repair" rekonfiguriert Designklassiker mit Hölzern aus dem städtischen Raum.
Welche Ökologie der Ideen die Werke und ihre Umgebungen eingehen, entscheiden nicht nur die präsentierten Arbeiten der Künstler:innen, sondern auch die Ausstellungsbesucher:innen – mit ihren Perspektiven vor Ort und im Austausch mit anderen. Der Kasseler Kunstverein lädt mit „Artifiziellen Ökologien“ in den Räumen seines Übergangsbiotops während der documenta fifteen dazu ein, Teil eines Ökosystems zu werden, dessen Pluralisierung sich aus dem Geflecht der Teilnehmenden, Dinge, Wesen und Gespräche ergibt.
York Kautt
Fotos: Nicolas Wefers, Chris Bierl
Die Ausstellung wird gefördert von:
Stiftung Kunstfonds / NEUSTART Kultur
Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur
Kulturamt der Stadt Kassel
Gerhard-Fieseler-Stiftung